Rektion des Verbs "vergessen"

1. Beispiele und Belege

1.1 Beispiele und Belege nach Quellen

DiÖ alternative, "standarddeutsche" Variante slawische Variante Quelle
(1) auf jmdn./etw. vergessen
jmdn./etw. [AKK] vergessen

tschech. zapomenout na někoho/něco 

Schuchardt 1886: 324;
Muhr 1995: 226;
Zeman 2003: 275, 278, 309;
Newerkla 2007: 40;
Newerkla 2009: 10;
Newerkla 2013: 255

(2) dass ich auf den Tölpel und Esel vergaß
dass ich den Tölpel und Esel vergaß

tschech. že jsem na hňupa i na osla zapomenul

Schuchardt 1884: 118
(3) wenn du ihn nicht darauf erinnern wirst, so wird er darauf vergessen […] so wird er es vergessen

 

Schuchardt 1884: 118
(4) an etwas vergessen
etwas [AKK] vergessen

 

Schuchardt 1884: 118
(5) von Etwas vergessen etwas [AKK] vergessen

 

Schuchardt 1884: 119
(6) dass ich von jedem Grusse vergass dass ich jeden Gruß vergaß

 

Schuchardt 1884: 119

 

1.2 Anmerkungen aus den Quellen

Sämtliche der in der Literatur genannten Beispiele haben gemein, dass Sie die Realisierung des PATIENS-Arguments des Verbs vergessen in Form eines Präpositionalarguments anstatt eines Kasusarguments (AKK) dokumentieren. Sie variieren wiederum untereinander in der Präpositionsselektion, weshalb in der Folge drei Typen unterschieden werden:

1.2.1 vergessen [auf + AKK]

Typ 1, die Realisierung des Präpositionalarguments mit der Präposition auf, wird beginnend mit der Diskussion bei Schuchardt (1884: 118) bis ins 21. Jahrhundert hinein wiederholt im Kontext des deutsch-tschechischen Sprachkontakts erwähnt. Die entsprechenden Kommentare werden hier chronologisch abgehandelt.

Schuchardt (1884: 118) eröffnet seine Diskussion des Phänomens mit Beispiel (2), das ebenso wie die angegebene tschechische Variante aus Steinsberg (1797a: 75) stammt. Im Original findet es sich in einem Monolog der Titelfigur Hans Klachl, in der dieser über seine seine Erlebnisse bei der Erkundung Prags berichtet, in deren Zuge er sowohl als "Esel/osel" als auch als "Tölpel/hňup" beschimpft wurde, auf diese Beschimpfungen jedoch auf Grund des Kaufs und Genusses zahlreicher Würste vergessen hätte.

Schuchardt (1884: 118) verweist zusätzlich auf eine zeitgenössische Diskussion darüber, ob das "nun ganz allgemein-östreichisch" (Hervorhebung A.K.) gewordene, also "nicht nur in den Leitartikeln der ersten Zeitungen, in den besten Romanen, in wissenschaftlichen Werken […] [und] in der Poesie" verwendete Präpositionalargument mit auf auf Sprachkontakt zurückzuführen wäre oder nicht. Er selbst vertritt in diesem Zusammenhang die folgende Meinung:

[…] dass sie so viel ich sehe keineswegs eine altvolksthümliche ist und dass wir andere Beispiele von weit vorgeschobenen Slawismen haben. (Schuchardt 1884: 118)

Als Autoren, die die gegenseitige Position vertreten und dazu tendieren, vergessen [auf + AKK] als nicht kontaktbedingt zu interpretieren, nennt er Halatschka, Stieler (wohl in persönlicher Korrespondenz) sowie Bechstein. Halatschka etwa bezeichnet in seiner Abhandlung zur Zeitungssprache (Halatschka 1883: 32) das Phänomen als "überhaupt [d.h. allgemeinen] bairischen" Austriazismus. Schuchardt (1884: 118) vermutet, dass das Präpositionalargument mit auf im Deutschen in Österreich durch vergleichbare Valenzmuster anderer kognitiver Verben gestützt wurde und bringt in diesem Zusammenhang Beispiel (2) aus Burian (1843: 272). Dort wiederum ist der Satz Teil einer Übersetzungsübung zu tschechischen Verben auf -ovat (hier: upamatovat(i) 'erinnern'), die auszugsweise in der folgenden Abbildung dargestellt wird.

Burian_vergessen.png
Ausschnitt aus Burian (1843: 272); eigene Bearbeitung basierend auf einem Screenshot von
http://data.onb.ac.at/rep/10407462

In Schuchardt (1886: 324) bringt er einen zusätzlichen Beleg für das Präpositionalargument [auf + AKK] des Verbs vergessen und zwar aus einem Brief Josef Dobrovskýs an Jernej Kopitar, deren Briefwechsel ihm in der von  Vratoslav Jagić besorgten Ausgabe (Berlin 1885) vorlag und dem er "im allgemeinen correctes Deutsch" attestiert. In diesem Kontext bezeichnet er das Phänomen als Slawismus, der als Austriazismus bekannt sei.

Muhr (1995: 226) bringt das gegenständliche Phänomen im Kontext von Austriazismen, die Retion und Valenz von Verben betreffen und vermerkt nur mehr oder weniger lapidar in Klammern: "(tschech./slow. Einfluß)".

Zeman (2003: 275) merkt an, dass die Konstruktion auf jemanden vergessen durchaus auch "im südlichen Teil Deutschlands" vorkommt und vergleichende syntaktische Studien notwendig wären, um sich dem Phänomen detailliert nähern zu können. Er selbst berücksichtigt es in seiner Fragebogenerhebung, die jedoch insbesondere in Bezug auf dieses auf Grund methodischer Probleme wenig zuverlässig ist (vgl. auch Kim/Scharf/Šimko 2020: 146). Zeman (2003) verwendet zur Abfrage nämlich den folgenden Beispielsatz, der auf Grund der Wortstellung die Konstuktion vergessen [+AKK] einzusetzen.

Er vergaß völlig _______ das Abendessen. (Zeman 2003: 357)

Daher verwundert der hohe ermittelte Bekanntheitsgrad der Konstruktion in Wien sowie Niederösterreich nicht (über 90 %-ige Angabe der Präposition auf in allen Altersgruppen, 100 %-ige in Niederösterreich, vgl. Zeman 2003: 309).

Newerkla (2007: 40) diskutiert das Präpositionalargument des Verbs vergessen im Kontext des von ihm beschriebenen Kontaktsubareals in und um Ostösterreich; in Newerkla (2013: 255) beschreibt er es – gemeinsam mit anderen Phänomenen – als charakteristisch für die "Wiener Umgangssprache" ohne jedoch seine Existenz in anderen Varietäten auszuschließen.

 

1.2.2 vergessen [an + AKK]

Ein Präpositionalargument des Verbs vergessen mit der Präposition an wird von den für MiÖ-SAKON untersuchten Werken ausschließlich von Schuchardt (1884: 118) erwähnt (vgl. Beispiel 4). Er beizeichnet es als "etwas seltener" als die Variante mit der Präposition auf, ordnet es als "insbesondere wienerisch-jüdisch" ein und erklärt es als Analogie zur Variation der Präpositionen auf und an beim Verb erinnern.

In den von Schuchardt (1884: 118) durchsuchten und bearbeiteten Quellen (vgl. Kim 2020), konnte das Phänomen bzw. in Halatschka (1883: 32) nachgewiesen werden, von dem er auch die Interpratiation der Präposition an "als die bei den Wiener Juden beliebte, nach falscher Analogie vorgenommene Verdeutschung davon" übernommen hat.

 

1.2.3 vergessen [von + AKK]

Aus Halatschka (1883: 32) übernimmt Schuchardt (1884: 118) auch Beispiel 6. Halatschka (1883: 32) selbst kommentiert diesen Beleg, der aus der Deutschen Zeitung vom 2. September 1882 von von einem Autor namens Johannes Meißner stammt, mit den Worten: "Ja, man lese und staune," wordurch wohl auf die Seltenheit des Phänomens hingewiesen wird. Schuchardt (1884: 118) vermutet "polnischen Einfluss", was sich wohl darauf zurückführen lässt, dass er einen entsprechenden Beleg (vgl. Beispiel 5) auch schon bei Bernd (1820: 418) findet. Dieser klassifiziert es als "überflüssigen" Gebrauch der Präposition von und bringt neben dem von Schuchardt (1884: 118) zitierten Beispiel mit einer Präpositionalphrase (von etwas) auch eines mit Präpositionaladverb:

Ich habe davon vergessen, f. ich habe es v. (Bernd 1820: 418, Hervorhebungen A.K.) 

 

2. Hinweise/Ergebnisse für Untersuchungen

Dieser Abschnitt befindet sich aktuell in Bearbeitung!

2.1 Plausibilität

 

2.2 Diachrone Aspekte

 

2.3 Areale Aspekte

 

2.4 Diastratische Aspekte

 

2.5 Bekannte Studien

2.6 Nächste Schritte

 

 

Text und Bearbeitung: Agnes Kim